Kölner-Stadt-Anzeiger vom 02.09.2008

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Kölner-Stadt-Anzeiger vom 02.09.2008

Philosophie in der Sozialwohnung

Im Wohnzimmer einer Höhenhauser Sozialwohnung wird die Tradition des "Salon" wieder belebt. Menschen unterschiedlichster sozialer Herkunft debattieren über Gott und die Welt.

Höhenhaus - Empfindet man Zeit in einer Gefängniszelle ohne Licht? Was ist der Unterschied zwischen Unendlichkeit und Ewigkeit? Und was hat Immanuel Kant mit dem Satz gemeint, Zeit sei nichts Objektives und Reales? Das sind die Fragen mit denen sich über 30 Menschen, die sich kaum kennen, in einem 20 Quadratmeter großen Wohnzimmer einer Sozialwohnung in Höhenhaus beschäftigen. In der "Siedlung Neurath" leben einfache Leute, Arbeiter, Arbeitslose aus zwei Dutzend Nationen. Hier wird viel eingebrochen, schon mal ein Nachbar verprügelt oder in der Waschküche mal illegal ein Lamm geschächtet, berichtet Gastgeberin Rose Packebusch, die auch in ihrer Wohnung schon einmal eine kleine Prügelei schlichten musste. In ihrem "Salon Europa", wie sie das ungewöhnliche Beisammensein im Wohnzimmer nennt, kann es schon mal sehr hitzig zugegen. Auch heute wird es sehr emotional. Zwischendurch müssen Tränen getrocknet werden, als ein "Teilnehmer", wie Packebusch ihre Gäste gerne nennt, über Geburt und Sterben spricht.

Markus Melcher beim Salon EuropaMarkus Melchers - er nennt sich "praktischer Philosoph", der "Sinn auf Rädern" anbietet - hat Mühe die zahlreichen Wortbeiträge seiner Zuhörer in einer Debatte über das Thema "Zeit" zu sortieren, die schon nach zehn Minuten beim Urknall ankommt. "Zeitmessung ist doch nur für die Finanzämter wichtig", meint einer schließlich, bevor sich ein anderer in der Agrarwirtschaft der Bauern in Mesopotamien verheddert und Melchers noch mal schnell Einsteins Relativitätstheorie erklären muss."Ein schöner Abend", freut sich die Gastgeberin darüber, wie in ihrem Wohnzimmer Leute unterschiedlichsten Alters und sozialer Herkunft über höchst Anspruchsvolles ins Gespräch kommen und sich "gegenseitig aushalten müssen".

"Immer spannend" im Salon

"Man lernt so viel über Menschen, die man sonst vielleicht nie kennen gelernt hätte", sagt Minijobber Norbert Obermanns und staunt über die Ausführungen eines offenbar studierten Mannes, über die Frage, ob Zeit in zwei Richtungen laufen kann. "Manchmal fragt man sich schon: Was will der eigentlich damit sagen?" Dass er den Mann nicht versteht, dürfte nichts mit fehlender akademischer Bildung zu tun haben. Obermanns ist genau wie die Rentnerin Margarete Rabe, einst Angestellte im öffentlichen Dienst und nun freischaffende Bildhauerin, ein Stammgast bei Rose Packebusch.

"Immer spannend" sei es im "Salon Europa". "Es ist herrlich, diese alte Form des Salons wieder aufleben zu lassen." Im sozialen Wohnungsbau wird an die Tradition des 18. und 19.Jahrhunderts angeknüpft, wo Mäzene - nicht selten reiche Frauen - Gäste, Gelehrte und Künstler in private Räume einluden. Reich ist Rose Packebusch nicht. Die studierte Pharmazeutin arbeitet nur zweimal die Woche in einer Mülheimer Apotheke. In der anderen Zeit ist sie Malerin, Autorin, Ausstellungsmacherin sowie Sammlerin von Lesezeichen und Feuersteinen, die wie Füße aussehen. Ihre ganze Wohnung steht voller kleiner Kunstwerke und Sammlerstücke. Während ein 80-jähriger Gast intensiv über die Nutzung von Zeit am Lebensende nachdenkt, droht eine Skulptur in seinem Rücken vom Sockel zu fallen. "Manchmal wird auch schon mal was geklaut", sagt Packebusch. Dann mache sie das Vergehen öffentlich und siehe da: "Beim nächsten Salon wird es wieder heimlich an den alten Platz gestellt."

Der philosophische Abend zum Thema "Zeit" ist bereits der 54. Salon, zu dem sie Zufallsbekanntschaften, Nachbarn und Freunde einlädt. Die Gäste sollen "über eine Sache" miteinander ins Gespräch kommen, möglichst intensiv, möglichst gewinnbringend. Jeder bringt eigene Erfahrungen und eigenes Wissen mit ein, bevor man nach einigen Stunden wieder auseinander geht und sich vielleicht erst beim nächsten Salon wieder sieht.

Packebusch ist keine Netzwerkerin oder ehrenamtliche Sozialarbeiterin. Ihr Salon im schwierigen sozialen Umfeld habe nichts mit Sozial- oder Bildungspolitik für Benachteiligte zu tun. "Ich bin keine Sozialromantikerin. Die Nachtdienste in der Apotheke haben mich da völlig desillusioniert." Insofern ist auch selbstverständlich, dass sie von ihren Gästen zehn Euro Eintritt nimmt, von denen der Referent und die Zutaten fürs Essen bezahlt werden. "Leute, von denen ich weiß, dass sie wenig haben, müssen natürlich weniger bezahlen." Das Essen, das sie zu jedem Salon kocht, soll immer etwas mit dem Thema des Abends zu tun haben. Heute gibt es "Altmärkische Hochzeitssuppe." Zu einem Vortrag über den "Mythos Granat" gab's 12 Kilo rote Grütze; wenn es beim nächsten Mal über Kinderbücher geht, wird Milchreis gekocht.

Accessoires: Ein Cembalo oder ein Sarg

Die Themen und Referenten, die Rose Packebusch für ihren Salon auswählt, sind vielfältig. Es geht um Politik und naturwissenschaftliche Phänomene genau wie um Literatur und Glaubensfragen. Für einen Abend mit Musik von Bach und Vivaldi wurde ein Cembalo, für einen Salon zum Thema "Sterben" ein leerer Sarg in die Wohnung getragen. Ein Künstler malte mit den Gästen, ein Referent zeigte einen Film über die Bürgerrechtlerin Angela Davis, ein anderer Diasvon einer Tibet-Reise. Uniprofessor Volker Neuhaus referierte über Kriminalliteratur, Künstler Gunter Demnig sprach über seine "Stolperstein". Als Packebusch mal wegen akutem Geldmangel die Heizung abgedreht worden war, wurde über die Existenz von Engeln nachgedacht.

Für die Referenten ist es nicht immer einfach, den richtigen Ton zu treffen und vor allem die richtige Form zu finden. "Da wird auch schon mal ein Referent angebrüllt, wenn es zu langatmig oder zu kompliziert wird", sagt Packebusch. Das bleibt dem Bonner Philosophen heute erspart, seine Thesen und Fragen sorgen für Gesprächsstoff bis tief in die Nacht. Die letzten gehen nach 2 Uhr morgens.

Von Helmut Frangenberg (Bilder: Worring)